Durch Augenzeugenberichte und öffentliche Akten lässt sich heute weitgehend nachvollziehen, was im November 1938 in Liesing geschah. Die Berichte zeigen, dass die Zerstörung auch in Liesing von den Nationalsozialisten organisiert war, es war kein spontaner Volkszorn, so wie es die Nationalsozialisten darstellten.
Historische Ansicht der Synagoge Liesing (Quelle: Jüdisches Museum, Archiv)
Der Übergriff auf die Synagoge begann mit der Demolierung der Inneneinrichtung und dem Entwenden von Gegenständen. Am Nachmittag des 10. November 1938 bereiteten uniformierte Männer (SS) und bekannte Nationalsozialisten die Zerstörung vor. Darunter befanden sich auch zwei Baumeister aus der Region. Nach einer ersten Sprentung brannte das Gebäude, es folgtre eine zweite Sprengung.
Vor Ort versammelte sich eine große Zuschauermenge. Angeblich sollen auch Schulkinder zum Brandplatz geführt worden sein. Die Feuerwehr war vor Ort, sie verhinderte das Übergreifen des Feuers auf andere Gebäude. Einer der Baumeister führte im Anschluss Fenster und Türen weg und demolierte die Baureste. Ziegelsteine nutzte der Baumeister angeblich beim Bau eines Hauses für seinen Bruder in der gleichen Gasse.
Das Grundstück eignete sich schließlich die Schwester des seinerzeitigen Ortsbauernführers der NSDAP an, im Jahr 1942 wurden am Grundstück Notwohnungen errichtet. Nach dem Ende des NS-Zeit wurde das Grundstück der Israelitischen Kultusgemeinde Wien rückgestellt, die es schließlich veräußerte. Heute befindet sich am Grundstück ein Gebäude der Firma Kerkoc. In diesem Zusammenhang ist wichtig: Die Firma Kerkoc steht mit den Ereignissen in keiner Verbindung und unterstützte freundlicherweise die Projektion am 9.11.2018 am Firmengrundstück.
Die Synagoge verschwand mit der Zerstörung im November 1938 völlig aus dem Stadtbild und auch weitgehend aus der Erinnerung – lange Zeit war nicht einmal bekannt, wo genau sich die Synagoge befunden hatte. Durch Recherchen in den Bauunterlagen konnte schließlich die heutige Adresse Dirmhirngasse 112 ermittelt werden.
In Wien besonders massive Ausschreitungen
Das Novemberpogrom war für die Nationalsozialisten ein Probelauf. Man wollte sehen: Wie weit kann man in der Gewalt gegen Juden gehen, ohne auf Widerstand der Bevölkerung zu stoßen?
Die Ausschreitungen rund um das Novemberpogram waren in Wien besonders massiv. Wien war für viele das Tor zum Westen gewesen – es war eine der größten jüdischen Gemeinden Europas. Nach der Pogromnacht war klar, dass ein normales Leben für Jüdinnen und Juden in Wien nicht möglich war. Alle Wiener Synagogen und Bethäuser wurden zerstört – bis auf den Stadttempel in der Seitenstettengasse. Fast 2000 Wohnungen wurden in Wien geräumt, 4.000 Geschäfte zerstört. 27 Menschen wurden ermordet und rund um die Pogromnacht kam es zu rund 680 Selbstmorden.
Die Nationalsozialisten waren die treibende des Pogroms, aber viele schauten zu, waren beteiligt, bereicherten sich. Das Ausmaß des Novemberpogroms ging schließlich weit über das hinaus, was von seiten des Regimes geplant war. Die Linie des Möglichens hatte sich verschoben. Wer eben noch Nachbar war, konnte vertrieben und ermordet werden. Der November 1938 zeigt uns: Von der Gewalt der Worte ist es nur ein kurzer Weg zur Gewalt der Taten. Der November 1938 ist damit bei weitem nicht nur Geschichte.
Mehr Informationen
Gerhard Botz zum Novemberpogrom (Der Standard 9.11.2018)